Marina K. Wolf
Autorin

RIANNU
Band II: Blutbande

Kapitel 1

Aufatmend warf Maris ihren Packsack auf einen der Wagen und sah sich um. Der sonst so ruhige Hof war heute von geschäftigem Treiben erfüllt. Kisten und Säcke wurden auf Wagen verzurrt, Wachen prüften den Sitz ihrer Ausrüstung und von einem Vorhof konnte sie die Duaide hören, die der Karawane noch letzte Nachrichten oder Güter mitgeben wollten und um Preise feilschten.
Reisende wurden diesmal nicht aufgenommen. Die Meister waren sich einig gewesen, dass man lieber ein paar Duaide verärgerte als das Risiko einzugehen, dass jemand Zolan erkennen könnte.

Maris ließ ihren Blick zu ihrem Zwillingsbruder wandern, der neben seiner Lehrerin Yuria Ketami stand. Er sah unglücklich aus und Maris konnte es ihm nicht verdenken. Im Gegensatz zu ihr hatte er sich von Anfang an in der Universitätsstadt Umra-Anh wohlgefühlt. Er hatte Freunde gefunden und zum ersten Mal in seinem Leben die Magie, die in ihm schlummerte, anzuwenden gelernt. Er hatte nicht damit gerechnet, bereits wenige Monate nach seiner Ankunft wieder fortgeschickt zu werden.
„Er wird schon wieder“, sagte eine Stimme neben ihr.

Maris sah in Jamiras sturmblaue Augen hinauf und rang sich ein Lächeln ab. „Ich wünschte, du könntest mitkommen! Du und Oulín, ihr seid die Einzigen, die ich vermissen werde.“

Die Großmeisterin zog sie in eine kurze aber feste Umarmung. „Ich dich auch. Aber ich habe noch einiges zu tun, um die Gilde wieder auf Vordermann zu bringen, das weißt du.“

Maris nickte stumm. Dann fragte sie leise: „Hast du schon mehr über Prinz Kiran herausgefunden? Woher er die Anuán hatte, mit der er uns angegriffen hat?“

Die Miene der Seherin verdüsterte sich und ihre Stimme bekam einen harten Unterton. „Sobald ihr die Landesgrenze erreicht habt, ist der Prinz keine Gefahr mehr für euch. Mehr müsst ihr über ihn nicht wissen.“

„Aber ...“

„Maris Asénoné, das ist kein Thema, das ich mit einer minderjährigen Schülerin bespreche!“

Einen Augenblick starrten Lehrerin und Schülerin einander an und beide konnten den Schatten fühlen, der sich hinter Jamiras Worten verbarg. Schließlich war es Maris, die die Augen niederschlug.

„Ich habe noch etwas für dich“, sagte Jamira in einem versöhnlichen Ton. Zu Maris Überraschung zog sie ein längliches Päckchen aus ihrer Tasche und drückte es ihrer Schülerin in die Hand. Als Maris das dünne Tuch zurückschlug, kam ein in sich gewundener, spitz zulaufender Stab aus dunkelbraunem, poliertem Holz zum Vorschein, kaum länger als ihre Hand. Eine Weile sah sie ihn an, ohne ganz zu begreifen, was da in ihrer Hand lag, obwohl um sie herum die meisten der Frauen ihre Haare mit einer ähnlichen Haarnadel hochgesteckt trugen.

„Eine Nál?“, brachte sie endlich hervor. Maris hatte sich manchmal ausgemalt, wie sie selbst eines Tages nach der traditionellen Art der Händlerinnen ihre Haare hochstecken und durch die Fünf Reiche ziehen würde, doch bisher war das immer ein vages Zukunftsbild gewesen. Eine Nál bekam eine Frau frühestens, wenn sie ihre Grundausbildung abgeschlossen hatte.

Die Seherin räusperte sich bevor sie erklärte: „Als ich nach meinem Studium von Umra-Anh nach Taira gereist bin, ist meine eigene Nál verloren gegangen. Ich habe tagelang gesucht, sie aber nicht wiedergefunden. Schließlich kam deine Mutter zu mir und hat mir diese hier geschenkt. Sie meinte, sie hätte genug davon, weil dein Vater ihr immer wieder neue geschnitzt hat. Ich denke, sie würden sich beide freuen, wenn du sie jetzt auf deiner Reise trägst.“

Maris starrte ihre Lehrerin mit offenem Mund an. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Jamira ihre Eltern auch nur ansatzweise gekannt hatte.

Maris Finger schlossen sich um den gedrehten Stab in ihrer Hand, den ihr Vater vor langer Zeit geschnitzt und ihre Mutter in den Haaren getragen hatte. Das abgegriffene Holz schmiegte sich warm an ihre Haut.

„Danke“, flüsterte sie und blinzelte die Tränen weg.

Die Großmeisterin nahm ihr sanft die Nál aus der Hand, drehte ihre Haare mit geübten Griffen ein und steckte sie an ihrem Hinterkopf fest. Dann legte sie die Hände auf die Schultern des Mädchens und sturmblaue Augen begegneten moosgrünen. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme rau und in ihren Augen lag ein abwesender Ausdruck.

„Du hast eine lange Reise vor dir, meine Tochter. Lerne deiner Anuán zu vertrauen und sie wird dich leiten. Lerne, deinen Freunden zu vertrauen und sie werden fest an deiner Seite stehen. Und vergiss nicht, dass man manchmal den Weg verlassen muss, um ans Ziel zu kommen. Dann wird vieles, das heute noch im Dunkeln liegt, zurück ins Licht kehren.“

Die Seherin blinzelte und brach damit den Bann, der Maris festgehalten hatte. Maris hätte gern gefragt, was die Großmeisterin noch gesehen hatte, aber sie bezweifelte, dass sie eine Antwort bekommen würde.

Jamira zögerte kurz, dann gab sie Maris einen Kuss auf die Stirn. „Sei mutig. Wie deine Eltern.“

Damit ging sie davon und ließ ein sehr verwirrtes Mädchen zurück.


Wenige Meter entfernt nahm Zolan zwei Bücher entgegen, die seine Lehrerin ihm in die Arme legte. „Mir ist klar, dass du unterwegs deinen Unterricht nicht im gleichen Maß fortsetzen kannst wie hier“, sagte Yuria Ketami. „Aber du solltest genug Zeit haben, um die hier durchzuarbeiten. Wir sehen wir uns wohl erst wieder, wenn ich meinen Titel habe. Aber glaub mir, ich werde wissen, ob du in der Zwischenzeit geübt hast oder nicht.“

Zolan sah in ihre harten Augen, schluckte und nickte.

„Wenn du Fragen hast, dann wende dich an euren Schmied. Er hat lang genug die Grundlagen der Feuermagie studiert, um dir weiterzuhelfen. Sobald du Ayamaru erreichst, werden die Meister dir einen neuen Lehrer zuweisen. Mach mir bloß keine Schande!“

Zolan zögerte kurz, dann umarmte er die Meisterschülerin. Yuria versteifte sich, bevor sie die Umarmung erwiderte.

„Danke für alles“, flüsterte Zolan, bevor er sie wieder los ließ.

Sie nickte bloß und wich zurück, um mit einem der Wachmänner zu reden, der die Karawane begleiten würde. Zolan verstaute die Bücher bei seinem Gepäck und nutzte den Moment, um gegen den Kloß anzukämpfen, der sich in seiner Kehle gebildet hatte.

Dann kletterte er vom Wagen und machte sich auf den Weg zu den Ställen, um Sattel und Zaumzeug zu holen. Sein Pony Tonga von der Weide zu locken, war ein Kinderspiel. Zolan brauchte nur einen der mitgebrachten Äpfel in Duftrichtung zu dem verfressenen Tier halten, und schon kam Tonga fröhlich angetrabt. Genüsslich kauend ließ er sich striegeln und satteln und murrte nicht einmal, als Zolan den Sattelgurt mit aller Kraft festzog.

Neben ihnen unterzog Maris ihre schwarze Stute der gleichen Prozedur. Im Gegensatz zu Zolans sanftmütigem Wallach schien Kobold sich von dem lebhaften Treiben umher anstecken zu lassen. Sie tänzelte nervös auf der Stelle, stampfte mit den Hufen und blähte ihren Bauch auf, als Maris ihr den Sattel auflegte.

„Hör auf mit dem Zirkus“, schimpfte Maris. „Sonst lass ich dir Zolan den Schwanz in Brand stecken.“ Kobold warf den Kopf zurück und schnaubte.

Zolan beobachtete seine Schwester aus den Augenwinkeln. Sie sah verändert aus in der Pashmini, der traditionellen Tracht, die alle Irshari-Frauen anlegten, wenn sie auf Wanderschaft gingen, wie sie es nannten.

Maris trug noch immer Hosen, doch sie fielen so weich und weit, dass man sehr genau hinsehen musste, um sie von einem Rock zu unterscheiden. Ihre dunkelgrüne Farbe wiederholte sich in der Stickerei an Ärmel und Halsausschnitt ihrer ungebleichten Bluse und betonte ihre Augen, die mit ihrer derzeit ebenfalls dunklen Farbe ihre Anspannung verrieten. Der Baum der Irshari, ein schlichtes Symbol aus einfachen Linien, war in etwas kräftigerem Grün wie bei allen Mitgliedern der Karawane sowohl auf dem Rücken der Bluse als auch auf ihrem wasserdichten Mantel zu sehen. Dieses Symbol würde ihnen freies Geleit über alle Grenzen und durch alle Kleinkönigreiche sichern. Ihr langes Haar trug sie zum ersten Mal nicht in einem geflochtenen Zopf, sondern wie eine erwachsene Händlerin hochgesteckt und von einer einzigen hölzernen Nadel am Hinterkopf gehalten. In Maris breiten, braunen Gürtel steckte ein einfaches Gürtelmesser. Es war neben der zusammenklappbaren Variante eines Pakons, der an ihrem Sattel befestigt war, ihre einzige Waffe.

Zolan wurde aus seinen Betrachtungen gerissen, als ein breitschultriger junger Mann mit kohlschwarzen Locken neben Maris einen großen, kastanienbraunen Hengst festmachte und begann ihn zu striegeln. Auch Maris hatte ihn bemerkt und hielt in der Bewegung inne, um ihn anzustarren.

Kayo sah missmutig auf, als er die Blicke spürte. „Ist was?“

„Äh, nein“, stotterte Zolan. „Wir hatten nur keine Ahnung, dass du mitreitest.“

Kayo zuckte mit den Schultern. „Der Karawanenschmied hat sich an der Hand verletzt und braucht einen Gesellen. Ich hab mich angeboten. Was dagegen?“

„Na wunderbar“, murrte Maris. „Dann haben wir ja mal richtig unterhaltsame Gesellschaft auf dieser Reise.“

Kayo Miene verfinsterte sich noch weiter. „Als ob ich mich mit dir unterhalten will.“

„Hört auf zu streiten. In einer Karawane ist kein Platz für solche Kindereien“, sagte eine Stimme und Zolan fuhr überrascht herum. Hinter ihm stand Girhin, der Alakai der Karawane, und runzelte die Stirn. „Es ist nicht gerade ein Vergnügungsritt, zu dem wir aufbrechen. Bevor der Sommer uns mit Hitze schlägt, dürfen wir uns noch auf einige Tage mit ungemütlichem Wetter einstellen. Da möchte ich mich nicht auch noch mit ein paar überspannten Halbwüchsigen rumärgern müssen.“

Maris senkte wie zur Entschuldigung den Kopf und wirkte mit einem Mal sehr klein und unbedeutend. Was zur Folge hatte, dass der Alakai seine volle Aufmerksamkeit dem Schmiedegesellen zuwandte. „Überhaupt solltet ihr Grünschnäbel eure Zeit weniger mit Reden und mehr mit dem Satteln eurer Ponys verbringen. Wer nicht pünktlich mit der Karawane aufbricht, wird zurückgelassen.“ Damit wandte er sich ab und ging mit langen Schritten davon.

„Charmant wie eh und je“, murmelte eine Frau in der graugrünen Uniform der Wachleute. Sie zwinkerte ihren jüngeren Reisebegleitern zu und ergänzte: „Das soll aber nicht heißen, dass er es nicht ernst meint. Ich würde es an eurer Stelle jedenfalls nicht darauf ankommen lassen.“

Als sie wenig später ihre Ponys auf den Hof lenkten, auf dem sich die Mitglieder der Karawane versammelten, stieß auch Maris Pflegebruder Nikato zu ihnen. Er gähnte ausgiebig und beäugte Zolan mit müdem Kopfschütteln. „Ich hab mich noch immer nicht daran gewöhnt dich mit blonden Haaren zu sehen.“

Zolan zupfte an einer seiner hell gefärbten Haarsträhnen. „Ich auch nicht“, gab er zu. „Und sie werden wohl auch bald wieder dunkler werden. Der Meister der Farben meint, es ist einfacher, helle Haare dunkel zu färben als dunkle Haare aufzuhellen. Aber bis zur Grenze sollte es auf jeden Fall halten, vielleicht sogar bis wir Kourakona erreichen.“

Nikato nickte zustimmend. „Schade eigentlich. Ich finde es steht dir.“

„Was faselst du nur für dummes Zeug. Es ist doch nicht wichtig, ob er damit hübsch ist“, tadelte Kayo. „Es geht darum, dass ihn niemand erkennt, bis er das Duan Dilheris verlassen hat.“

Nikato ließ die Zügel seiner fuchsfarbenen Stute los und verschränkte die Arme über der Brust. „Hast du heute einen Frosch gefrühstückt oder warum bist du so überaus gut gelaunt?“

Kayo warf ihm einen verärgerten Blick zu, drückte seinem Hengst die Knie in die Seiten und lenkte ihn zu dem Wagen, der die mobile Schmiedewerkstatt beherbergte.

Nikato ließ die Arme wieder sinken und sagte erschöpft zu Maris: „Manchmal würde ich meine Anuán gern mit deiner tauschen. Dann wüsste ich vielleicht, was das alles soll.“

Maris ging nicht auf sein Klagen ein. „Warum ist er mitgekommen?“

Ihr Pflegebruder zuckte nur mit den Schultern. „Das weiß ich nicht so genau. Er kam gestern Abend zu mir und hat erzählt, dass Girhin ihm die Stelle angeboten hat. Ehrlich gesagt, ich hab nicht weiter nachgefragt.“

In diesem Moment erklang ein trillernder Pfiff und die Wagen setzten sich in Bewegung.

„Die Reise beginnt“, sagte Nikato.

„Mögen die Winde uns gnädig sein“, murmelte Maris.